Blutige Vergangenheit und ungewisse Brexit-Zukunft

Mit Zeitzeugen sprechen, ihre ganz persönliche Sicht erfahren, Fragen stellen und Emotionen zulassen: Das macht Geschichte lebendig und fördert Ereignisse zutage, die schon nach ein paar Jahren in Schulbüchern nur ein paar Seiten umfassen. Wer erinnert sich in Europa denn noch an die mehr als 2000 Toten und an die Schrecken des Bürgerkrieges in Nordirland vor mehr als 40 Jahren, die jahrelang die Abendnachrichten bestimmt haben? Die Mittelstandsvereinigung der CDU im Kreis Paderborn hat die Herausforderung angenommen und hat bei einer viertägigen Reise in die nordirische Hauptstadt Belfast die blutige Vergangenheit und ungewisse Brexit-Zukunft beleuchtet.

Mit dem dienstältesten Europapolitiker Elmar Brok und Irland-Experte an der Seite, findet die Gruppe unter Leitung des MIT-Kreisvorsitzenden Ulrich Lange kompetente Gesprächspartner. Und sie muss lernen, dass hier trotz aller sichtbaren Normalität die Gräben immer noch vorhanden sind zwischen den Parteien. Aber auch, dass selbst Historiker es sich zu einfach machen, wenn sie den Konflikt auf einen Religionsstreit zwischen Katholiken und Protestanten beschränken. „Hier geht es um vielschichtige Interessen, um Nationalisten und Unionisten, um Irland und England“, erklärt der deutsche Reiseleiter Peter, seit mehr als 30 Jahren hier Dozent, Augenzeuge und Kenner nordirischer Mentalität. „Jetzt wollen die Menschen aber ohne Angst leben und arbeiten.“

„Man weiß in London nichts über die drohenden Probleme hier, die Politiker ignorieren das Friedensabkommen und opfern es, um möglichst schnell die Union zu verlassen“, zieht auch Honorarkonsulin Dr. Angela Faupel eine ernüchternde Bilanz des Polittheaters. Sie lebt seit 22 Jahren hier und ist im Hauptberuf Dozentin an der Universität Ulster. „In Nordirland wurde jahrzehntelang die katholische Minderheit diskriminiert, von Ämtern und Bildung abgeschnitten. Da war und ist gerade Bildung für diese Menschen von größter Bedeutung.“ 30000 Pendler täglich passieren in beiden Richtungen die 500 Kilometer lange Grenze, sichtbar nur durch unterschiedliche Straßenschilder mit Meilen- und Kilometeranzeigen. Im Falle des Brexits wäre dies wieder eine hermetische abgeriegelte Zoll- und EU-Außengrenze.

In Belfast trennen noch immer 35 Kilometer Mauern die Wohnviertel der irischen Nationalisten und der sich zum Königreich bekennenden Unionisten. An den Fahnen und Wandgemälden kann man die Parteien immer noch zuordnen. Aber seit dem „Good Friday Agreement“, dem auch als Karfreitagsabkommen bekannten Friedensvertrag vom 10. April 1998 zwischen den irischen und britischen Regierungen und den meisten politischen Parteien in Nordirland, gibt es zumindest keine rohe Gewalt mehr, die Mauern sind durchlässiger geworden. Heute würde es laut neuesten Umfragen sogar eine Mehrheit geben in der Bevölkerung für einen Zusammenschluss mit der Republik Irland. Der Brexit könnte diese Friedensentwicklung wieder infrage stellen. Fast 60 Prozent der Nordiren wollen in der EU bleiben.

Einer, der diese Befürchtungen immer wieder offen benennt und sich auch einmischt, ist der Belfaster Bischof Noel Treanor. Er lobt Elmar Brok zusammen mit Alban Maginess, 1997 erster katholischer Lord Mayor (Oberbürgermeister) von Belfast, für dessen weitsichtige Rolle als einer der Architekten des Karfreitagsabkommens. „Irland und Großbritannien zusammen in der EU, das war die Basis für die Friedensgespräche. Der Brexit könnte in einem wirtschaftlichen und finanziellen Debakel enden“, appelliert Brok erneut an die Briten, die Nordirlandfrage gut zu überdenken und alle Interessen zu berücksichtigen.

Dass es auf der persönlichen Schiene erfolgreiche Konzepte gibt, Nationalisten und Unionisten, zusammenzuführen und zu versöhnen, haben zwei Geistliche vorgemacht: Reverend Steve Stockmann und Father Magill, beide in den Bürgerkriegsgebieten auf verschiedenen Seiten aufgewachsen, haben aus persönlicher Freundschaft heraus Brücken gebaut, Mauern in den Köpfen der Menschen eingerissen und Frieden gestiftet, wo jahrzehntelang der Hass regiert hat. Sie haben Festivals organisiert, Nachbarschaften motiviert und dafür gesorgt, dass ehemalige Feinde sich in ihren Vierteln besuchen. Eine Blaupause vielleicht auch für viele ehemalige Kriegs- und Krisengebiete auf der ganzen Welt, wenn Religionen es schaffen, zu versöhnen, statt zu trennen. Deshalb hat der MIT-Kreisvorsitzende Ulrich Lange auch spontan angeregt, dass Bischof Treanor und die beiden Geistlichen sicher wichtige und interessante Gäste beim Paderborner Liborifest sein könnten. „In einer Stadt, wo die älteste Städtepartnerschaft Europas gefeiert wird im Zeichen des Friedens, sind solche Beispiele, die Mut machen, genau an der richtigen Stelle.“

[Fotos der Reise]